Urweltmuseum Neiderhell

Als die Erde laufen lernte

Versteinerte Dreilappkrebse, Ammonshörner, Seeigel und Donnerkeile sind stumme, aber dennoch beredte Zeugen aus der Kinderstube unseres Planeten.

Als die Erde laufen lernte

Fast jeder Mann hat als Junge irgendwo einmal einen Donnerkeil, Seeigel, Dreilappkrebs oder ein Ammonshorn gefunden und dabei eine unbestimmte, abenteuerliche Vorstellung von längst vergangener Lebenszeit gehabt. "Das sind versteinerte Tiere", hat dann der Lehrer gesagt, dem die Funde vorgezeigt wurden. Früher ließ man es meist bei dieser Antwort bewenden, aber neuerdings, seit etwa den 60-er Jahren ist das Sammeln von Versteinerungen zu einem modernen Hobby geworden. Der Mensch, auf dem Weg zu den Sternen, kehrt in seiner Freizeit zu den Ursprüngen der Erde zurück!
Daß der Mensch, aufs Ganze gesehen, erst verhältnismäßig kurze Zeit die Erde bevölkert, weiß jedermann. Man kann etwa eine Million Jahre dafür ansetzen. Aber schon dieser Zeitraum ist für den Armbanduhr-Menschen des 20. Jahrhunderts nicht mehr recht zu übersehen. Die Geologie jedoch, die Lehre von der Geschichte und Beschaffenheit der Erde, überblickt heute etwa zwei Milliarden Jahre Erdgeschichte! Angesichts dieser Unermesslichkeit könnte man meinen, es sei für den Laien ganz sinnlos und uninteressant, sich mit der Geschichte dieser alten Mutter Erde zu befassen.

Blick in die Erdgeschichte

Nun ist es allerdings so, dass auch die Geologie keine minutiösen Vorstellungen vom Ablauf der zwei Milliarden Jahre Erdgeschichte hat. Vom Rechnen nach der Uhr oder nach der Spanne eines Menschenlebens gilt es sich dabei frei zu machen. Das Geschichtsbuch ist die ganze Erde, und die darin eingeschlossenen, versteinerten Tiere sind die Buchstaben. Wer einmal im Steinbruch die verschiedenen Gesteinsschichten betrachtet hat, der hat damit einige Blätter des großen Erdgeschichtsbuches gesehen und der kann sich vorstellen, dass man hier bestenfalls mit Jahrhunderttausenden rechnen darf.
Von den zwei Milliarden Jahren kennt man "nur" die letzten 500 Millionen einigermaßen gut, die von der Wissenschaft in die Hauptgruppen Erd-Altertum, Erd-Mittelalter und Erd-Neuzeit aufgeteilt sind. Aus den davorliegenden unermesslichen Zeiträumen, der Erd-Frühzeit, ist bis heute nur sehr wenig bekannt. Es wird damals noch kein Land gegeben haben, und im Welt-Urmeer mögen neben Algen und einzelligen Tieren auch die ersten höheren Lebewesen wie Schwämme, Quallen und Würmer gelebt haben.

Versteinerte Zeugen

Mit dem Erd-Altertum beginnen sich jedoch die Blätter des Erdgeschichtsbuches mit den interessanten Buchstaben zu füllen. Aus dieser Fülle der versteinerten Zeugen tierischen Lebens im Erd-Altertum und Erd-Mittelalter sollen hier die Dreilappkrebse, Ammonshörner, Seeigel und Donnerkeile näher betrachtet werden, weil sie am häufigsten von Laien gefunden werden und weil mit ihnen so manche Sammlung beginnt. Auf Bergwerkshalden und in Schieferbrüchen, etwa im Ruhrgebiet oder in der Eifel und im Hunsrück, findet man neben anderen tierischen und pflanzlichen Versteinerungen auch im Gestein eingebettete Dreilappkrebse. Sie sind oft bis in alle Einzelheiten gut erhalten.

Zeitgenossen der Ur-Fische

Die Dreilappkrebse oder Trilobiten gehören zu den ältesten bekannten Tiergesellschaften des Erd-Altertums. In allen Meeren sind sie zahlreich vertreten gewesen und haben eine Größe bis zu einem halben Meter erreicht. Die Ähnlichkeit der Dreilappkrebse mit unseren heutigen Kellerasseln ist unverkennbar. Mit schlagartigen Schwingbewegungen vom Kopf bis zum Schwanz kamen sie im freien Wasser voran, während sie sich auf dem Grund mit Hilfe verschieden ausgebildeter Stacheln fortbewegten. Spätere Formen hatten auch die Möglichkeit, sich wie Igel zusammenzurollen. Während des ganzen Erd-Altertums, also rund 300 Millionen Jahre, lebten die Dreilappkrebse als Zeitgenossen der nach und nach auftretenden Urfische, Amphibien, Insekten und Reptilien. Mit dem Ende des Erd-Altertums sind sie dann völlig ausgestorben.

Luftkammern zum Tauchen

Ebenfalls im Meer zu Hause waren die Ammonshörner oder Ammoniten. Zuerst tauchten sie etwa in der Mitte des Erd-Altertums auf, waren anfangs sehr klein und erreichten gegen Ende des Erd-Mittelalters einen Durchmesser von über zwei Metern. Danach starben sie völlig aus. Das Gehäuse des Ammonshorns war in Luftkammern aufgeteilt, die dem kopfunterschwimmenden Tier das Auf- und Absteigen im Wasser ermöglichten. Nur die vorderste Kammer diente dem Weichkörper als Wohnung. In der Wohnkammer einiger Arten hat man die Gehäuse von jungen Tieren versteinert gefunden, woraus zu schließen ist, daß die Ammonshörner lebendgebärend waren.
Zu finden sind versteinerte Ammonshörner sowohl in den Alpen als auch in Schwaben und Württemberg, im Harz und im Weserbergland. Bei Lüdinghausen in Westfalen fand man vor vielen Jahren ein Riesen-Ammonshorn mit einem Durchmesser von 2,55 Metern und einem Gewicht von 70 Zentnern.
Die allgemein bekannten Seeigel hatten schon im Erd-Altertum die gleiche kugelige Gestalt wie heute. Im Gegensatz zum Dreilappkrebs und Ammonshorn sind sie nicht ausgestorben, so daß ihre Lebensweise heute noch zu beobachten ist. Fast überall in Deutschland, wo Sandstein, Kreide, Kalk oder Kies abgebaut wird, sind versteinerte Seeigel zu finden. In Feuersteinknollen in Sandgruben und an den Küsten sind sie eingeschlossen, und am Strand findet man sie teilweise oder völlig ausgewaschen.


Geschosse des Donnergottes

Vergleichsweise jung sind die am häufigsten vorkommenden Donnerkeile oder Belemniten, die erst im Erd-Mittelalter auftauchen. Dafür aber ist ihre echte und ihre erfundene Geschichte um so interessanter. Schon früh hielt man die Donnerkeile für Geschosse des Donnergottes, die er mit dem Blitz in den Erdboden schleuderte. Das wird hier und da auch heute noch geglaubt, wenn man dabei auch den Donnergott aus dem Spiele läßt. Die ersten Naturforscher meinten, die Donnerkeile seien Stacheln großer Seeigel oder Zähne großer Meeresraubtiere. Erst später kam man hinter den wahren Sachverhalt und erkannte, daß die Donnerkeile nur die Hartteile von tintenfischartigen Tieren sind.
Die seltsamen Geschöpfe müssen pfeilschnelle Schwimmer gewesen sein. Man nimmt an, daß sie mit dem Schwanzstachel, dem Donnerkeil, voran durch das Wasser schossen, indem sie einen Wasserstrahl aus dem trichterförmigen Teil ausstießen. Ihr Kopf war mit Fangarmen ausgerüstet, an denen kräftige Haken zum Festhalten der Beute saßen. Als Schutz vor ihren Feinden hatten sie, ähnlich wie die heutigen Tintenfische, einen Tintenbeutel, mit dem sie sich einnebeln konnten.
Die gelblich-braunen Donnerkeile findet man in verschiedensten Größen überall dort, wo auch versteinerte Seeigel und Ammonshörner anzutreffen sind. Vor allem an den Küsten der Ostsee und der Nordsee und im Schiefer von Solnhofen im Atlmühltal sind sie gut erhalten geblieben.

Schulung fürs Auge

Das Suchen und Sammeln von Versteinerungen hat, wie gesagt, in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen. Es hat gegenüber manchem anderen Hobby den Vorteil, daß der Sammler dabei in der freien Natur weilt und so Blick und Sinn zugleich für die Schönheit des Lebenden und des Vergangenen schult. Wer erst einmal sehen gelernt hat, indem er am Strand oder im Steinbruch seinen ersten Seeigel oder Donnerkeil fand, der wird beim nächsten Spaziergang schon von einigem Sucheifer befallen sein.
Wenn dann schließlich eine kleine Sammlung beisammen ist und das eine oder andere Stück mühsam aus dem umgebenden Gestein herauspräpariert wurde, kommen die Fragen nach Lebensweise und Umwelt der Funde. Es ergeben sich Kontakte mit anderen Sammlern und Geologen, und im Gespräch entstehen lebensvolle Bilder längst vergangener Zeiten mit ihrem ganzen Reichtum an verschollenem tierischen Leben.
In mancher stillen Stunde aber die der Sammler allein bei seinen Dreilappkrebsen, Ammonshörnern, Seeigeln und Donnerkeilen verbringt, wird ihm das hastige Ticken seiner Armbanduhr nur noch halb so wichtig erscheinen. Denn was ist schon eine Stunde, ein Tag, ein Menschenleben angesichts dieser Fülle von Zeit!